Interview: "Echtes Interesse und eine gemeinsame Idee"
Es ist noch nicht lange her, da steckten die Sozialtherapeutischen Gemeinschaften Weckelweiler in einer existenzbedrohenden finanziellen Krise; das Vertrauen der Mitarbeiter, des Umlands und nicht zuletzt der Landkreisverwaltung war verspielt. Die Insolvenz stand bevor. Der Volkswirt Professor Dr. Steffen Koolmann und die Verwaltungswirtin Petra Bittinger, die sich seit November 2017 die Vorstandsarbeit teilen, haben daraus in den vergangenen sieben Jahren ein Sozialunternehmen entwickelt, das erfolgreicher ist als je, darüber aber die anthroposophischen Wurzeln nicht vergessen hat.
Birgit Trinkle: Sie haben mal gesagt, dass fehlende Liebe zur Welt die Freiheit und die demokratische Grundordnung gefährdet. Was denken Sie beim Blick auf den von Hass bestimmten Wahlkampf in den USA?
Steffen Koolmann: Da muss ich gar nicht so weit gehen. Das ist natürlich das absolute Extrem. Dass man sich derart anfeindet, die Umgangsformen, die dort an den Tag gelegt werden, sind hier nicht nachvollziehbar. Die Unterschiede liegen aber nur im Äußeren; das Dahinterliegende ist nahezu gleich: Menschen, in diesem Fall Politiker, interessieren sich nicht wirklich für die Menschen.
Sie interessieren sich. Wieso?
Das hat mit meiner Biografie zu tun. Ich war ein Volkswirt im klassischen Sinn, ein Wissenschaftler, der an seiner Habilitation geschrieben hat. Dann gab es 1986 einen Schicksalsschlag: Unser erstes Kind ist wenige Monate nach der Geburt gestorben. Ich habe mir damals die Sinnfrage gestellt, mich auf die Suche gemacht und darüber den Weg zur Anthroposophie gefunden. Damals war ich immer noch im Elfenbeinturm, und hier war es so, dass das jeweilige Gegenüber nur über die Qualität seiner Thesen oder theoretischen Modelle interessant war. Über unseren Wunsch, einen Waldorf-Kindergarten zu finden, bin ich dann in diese Bewegung eingestiegen, und als ich Geschäftsführer einer Waldorfschule wurde, war das zum ersten Mal etwas von starker gesellschaftlicher Relevanz. Seit 1991 bin ich im anthroposophischen Bereich unterwegs, und seither beschäftigen mich auch gesellschaftliche Fragen. Meine gegenwärtige innere Forschungsfrage gilt dem Zusammenhang von Mensch, Unternehmen und Gesellschaft. Wenn wir als Menschen keine Idee vom Leben haben, davon, wie wir unser Leben gestalten wollen, werden wir in gewissem Sinne lebensunfähig.
Bei Ihrem Stichwort Unternehmen denke ich an das Nokia-Syndrom: sich auf Erfolgen auszuruhen, kein Gespür für Markt und Produkt zu haben und entscheidende Trends zu verpassen.
Alois Schumpeter, ein österreichischer Nationalökonom, hat vor rund hundert Jahren zwischen Unternehmer und Wirt unterschieden. Der Wirt schenkt hier kein Bier aus, sondern ist eher als Wirtszelle gemeint. Das könnte heute durch den Stereotyp „Manager“ ersetzt werden, die keine Idee haben, wer sie sind und was sie machen – im Gegensatz zum klassischen Firmengründer, der mit Leib und Seele dabei ist. Das gilt auch für unsere Gesellschaft. Mal nur auf Deutschland bezogen: Was fehlt, ist eine Idee zu unseren gesellschaftlichen Fragen, eine Art gemeinsamer innerer Ort des deutschen Volkes, und das ist nicht nationalistisch gemeint. Wie wollen wir als multikulturelle Gesellschaft miteinander umgehen und mit der Natur? Politiker konkurrieren unterdessen nicht um die beste Idee, sondern ums Parteibuch, eigene Interessen und die Wiederwahl. Ich war schon in einigen Sanierungsfällen Geschäftsführer, und überall, auch hier in Weckelweiler in der Zusammenarbeit mit Petra Bittinger, war es immer entscheidend, sich im Sinne der Sache, einer gemeinsamen Idee, zu einigen. In Weckelweiler ist das nicht Gewinnoptimierung, sondern Sozialmaximierung; die durchaus erwirtschafteten Gewinne werden reinvestiert.
Haben Sie eine Vorstellung davon, was dem Land helfen könnte?
Uns fehlt ganz entscheidend die politische Führung. Persönlichkeiten, die fürs Land da sind. Das ist derzeit nicht spürbar. Eine Gesellschaft ohne Haltung, ohne Idee, driftet auseinander. Das ist wie in der Unternehmenskultur, die zwingend eine seelische Verbindung zwischen den Mitarbeitenden und der Idee des Unternehmens benötigt. Damit ist nicht nur das Firmen-T-Shirt oder der gemeinsame Muswiesen-Ausflug gemeint. Hier kommen wir wieder zurück zur Anthroposophie. Wenn Sie nicht von seelischer Verbundenheit sprechen wollen, nennen Sie’s postmodern DNA.
Dass Anthroposophie zu einem wirtschaftlich erfolgreichen, sich im Bürokratiedschungel wie selbstverständlich zurechtfindenden Unternehmen passt, widerspricht so ziemlich jedem Klischee.
Dazu sollte man zunächst wissen, wie ich Anthroposophie verstehe, nämlich als das Bemühen, hinter die Dinge zu sehen, das Verborgene hinter dem Offensichtlichen zu entdecken. Wenn mich ein Bewohner mit Unterstützungsbedarf anbrüllt, frage ich mich, was dem zugrunde liegt. Die besonderen Menschen spüren echtes Interesse übrigens viel stärker. Sich nicht mit dem Vordergründigen zufriedenzugeben, das ist das Interesse am anderen, das einen entscheidenden Unterschied ausmacht. Das Rudolf-Steiner-Zitat hinter mir an der Wand („Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnis des fremden Wollens ist die Grundmaxime des freien Menschen.“ Anm.) ist eines der wichtigsten meines Lebens; es hängt seit über 30 Jahren in jedem meiner Büros. Steiner hat schon seinerzeit die Anthroposoph:innen aufgefordert, Zeitgenoss:innen zu sein. Er hat sich sogar verbeten, dass man ihm nachbetet oder ihm blind folgt. Ich meine, das gilt aktuell mehr denn je. Knapp 100 Jahre nach seinem Tod sollte man sich von der Person Rudolf Steiners lösen, sich nicht ständig auf ihn als Person berufen – und stattdessen die Anthroposophie weiterentwickeln und in das gegenwärtige Weltgeschehen hineinstellen. 1919 hat Rudolf Steiner es selbst so formuliert – und diese Ausführungen von ihm kennen ganz offensichtlich die Wenigsten: „(...) deshalb liegt mir gar nichts daran, dass alle meine Anregungen bis in die Einzelheiten ausgeführt werden. Wenn man an irgendeinem Punkt anfangen wird, so zu arbeiten, wie es im Sinne dessen liegt, was ich heute gesagt habe, dann möge von dem Inhalt, den ich vermittelt habe, kein Stein auf dem anderen bleiben.“
Die Weckelweiler Gesellschaften sind keine Ausnahmeerscheinung?
Natürlich nicht. Nach meinem Verständnis liefert das Ringen um Miteinander und um eine gute Idee, erst die Voraussetzung für ein erfolgreiches Unternehmen. Ich habe mit Götz Werner (dm-Drogerie, Anm.) und vielen anderen gearbeitet, die genau darauf aufbauten. Natürlich muss eine gute Idee auch auf den Boden gebracht werden. Kompetenz war und ist gefragt, das Handwerkszeug eben. Aber das versteht sich von selbst.
Wenn Sie von Anthroposophie sprechen, klingt das ganz anders als zum Beispiel Stellungnahmen einer Waldorfschule, die sich kategorisch gegen das Impfen stellt, oder Extremisten, die Rudolf Steiner zitieren.
Auswüchse gibt es überall. Auch wir hatten mit Kritik zu tun, weil wir uns während der Pandemie nicht gegen das Impfen ausgesprochen haben. Wir sind in den Dialog gegangen, haben aufgeklärt. Wir hätten uns an einigen unsinnigen Bestimmungen abarbeiten können, stattdessen haben wir sofort eine Task Force gegründet und unter anderem mit ganz viel Obst, Spielen und Bildermalwettbewerben gearbeitet, um trotz der massiven Einschränkungen alle, insbesondere die vulnerablen Menschen, hier möglichst gut durch die Pandemie zu bringen. Ich glaube, das ist uns richtig gut gelungen. Immer wieder lässt sich alles runterbrechen auf die Frage, ob man sich für Diskurs einsetzt oder in Positionskämpfen verliert. Um auf die Liebe zurückzukommen: Auch innere Verbundenheit ist zentrales Thema. Wenn einer wie Ralf Rangnick, Österreichs Fußballnationaltrainer, von der Liebe zur Mannschaft spricht, dann sagt er das nicht einfach so dahin. Die Frage nach Quellort und Zukunftsort ist hier in Weckelweiler ebenfalls ganz wichtig. Vieles, was bei der Gründung 1959 ausschlaggebend war, macht uns noch heute aus. 2025 wollen wir unsere Unternehmenskultur weiterbringen, nach wie vor mit Kopf, Herz und Hand.
Zur Person: Von der Wirtschaft über die Lehre nach Weckelweiler
Zur Person Steffen Koolmann wurde 1961 in Gelnhausen (Hessen) geboren. Nach seiner Promotion 1991 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt. Dann gab er seinem Leben eine neue Richtung. Ab 1992 war er unter anderem geschäftsführender Vorstand des Rudolf Steiner-Schulvereins Nürnberg, Prokurist bei der GLS-Bank in Bochum und später als Gründer des „Instituts für sozialwirtschaftliche Unternehmensführung (ISU)“ selbstständig. Ab 2008 war er in leitender Funktion an der Alanus Hochschule in Bonn tätig und hatte einen Lehrstuhl für Ökonomie und Gesellschaft inne; seit er 2017 nach Weckelweiler kam, ist er dort weiterhin als Honorarprofessor tätig.
Das Interview erschien am 2.11.2024 im Hohenloher Tagblatt