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Vortrag zur "Euthanasie-Aktion" der Nationalsozialisten

Rund 100 Menschen kamen zum Vortrag von Stadtarchivar Folker Förtsch in die Weckelweiler Gemeinschaften. Das Thema: die Euthanasieaktion der Nationalsozialisten.

 

Von Ute Bartels

Die Sozialtherapeutischen Gemeinschaften Weckelweiler haben Glück. Sie erfreuen sich der so genannten „Gnade der späten Geburt“, meinte Petra Bittinger, eine von zwei Vorständen der Gemeinschaften in dem Ortsteil von Kirchberg. Gegründet im Jahr 1959 war die Einrichtung von der „Euthanasie-Aktion“ der Nazis nicht betroffen. Dennoch: „So etwas darf nie wieder passieren“, sagte Petra Bittinger bei einem Vortrag am Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus. Die Veranstaltung wurde organsiert auf Veranlassung eines Vereinsmitglieds, das ursprünglich ein Mahnmal für Euthanasie-Opfer beantragt hatte. „Doch wir wollten uns mit dem Thema auf andere Weise auseinandersetzen“, so Bittinger. Deshalb habe man Folker Förtsch um einen Vortrag gebeten.

Der Crailsheimer Stadtarchivar kennt die Namen: „Pauline B. aus Crailsheim, geboren 1864, gestorben 1940 in Grafeneck“, sagte er und zeigte ihr Portrait. „Babette K. aus Hengstfeld, geboren 1899, gestorben 1940 in Grafeneck.“ „Ernst M. aus Schrozberg, geboren 1914, auch er: gestorben 1940 in Grafeneck“. Immer wieder: „gestorben 1940 in Grafeneck.“

Und da war vor allem das „Kätterle“, Katharina, die von ihrem Vater liebevoll gepflegt wurde, bis er starb und die Tochter ins Gottlob-Weisser-Haus der Diakonissenanstalt in Schwäbisch Hall kam. 1940 wurden dort und in Außenstellen 541 behinderte Frauen und Kinder betreut. Das „Kätterle“ habe sich im Diak gut eingelebt, berichtet eine Diakonisse. „Mit dem fröhlichen Wesen, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, machte sie sich viele Freunde.“ Das Kätterle liebte das Weihnachtsfest, berichtet die Diakonisse. Im Gottesdienst habe sie es kaum ausgehalten vor Wonne, und wenn der erste „Freundenssturm“ vorüber war, „da lag sie ruhig in ihrem Rollstuhl im Schein der Kerzen und war ganz Freude und Dankbarkeit.“ Doch im November 1940 kam Kätterle nach Weinsberg „und schon das Christfest durfte sie in der Ewigkeit feiern“, so die Diakonisse weiter.

„Kätterles Tod war aber kein natürlicher“, sagte der Crailsheimer Stadtarchivar Folker Förtsch. Denn von Weinsberg aus wurden das Kätterle in einem der berüchtigten grauen Busse nach Grafeneck auf die Schwäbischen Alb gebracht. Und dort vergast. Kätterle passte nicht ins krude Menschenbild der Nazis. Als Behinderte hatten sie ein „minderwertiges Leben“.

Wie ihr ging es 180 anderen Pfleglingen aus der Behinderteneinrichtung des Diaks. Sie alle wurden 1940 von Schwäbisch Hall nach Weinsberg verlegt – die Nazis beschlagnahmten das Gotthilf-Weisser-Haus. Von Weinsberg aus kamen sie nach Grafeneck. Hinter dem Schloss hatten die Nazis für diesen Zweck eine Garage in eine Vergasungskammer umgebaut. Bis Ende des Jahres kamen dort insgesamt 10.000 Menschen aus ganz Süddeutschland ums Leben. Reichsweit zählte die Aktion bis 1941 70.000 Opfer - Männer, Frauen und Kinder.

Die Nazis verwendeten für die Aktion einen Tarnnamen. T4 lautete der, nach der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, von wo aus geplant wurde. Und das akribisch. Die Heimleitungen bekamen Meldebögen, mit denen sie Insassen melden sollten, die zum Beispiel an Epilepsie litten, an „senilen Erkrankungen“ oder an „Schwachsinn jeder Ursache“.

Wie die Aktion im Haller Diak ablief, ist bekannt. „Der Leiter, Pfarrer Wilhelm Breuning, ließ die Unterlagen erst einmal liegen“, so Förtsch: „Er kannte die Diskussionen. Er wusste auch, dass aus einer Einrichtung in Tettnang 25 behinderte Menschen innerhalb von kürzester Zeit gestorben waren. Das hat ihn vorsichtig gemacht.“

Breuning ließ auch die Abgabefrist der Meldebögen verstreichen. Doch ein halbes Jahr später drohten die Nazis mit Folgen für das gesamte Diak. So sah Breuning keine andere Möglichkeit mehr, als Bögen zurückzuschicken – 170 hatte er zusammen mit einer Ärztin ausgefüllt. „Diese Frau war ihr Leben lang von der Aktion gekennzeichnet“, berichtet Förtsch. Breuning tat noch etwas anderes: Er informierte die Angehörigen und bat sie, ihre Familienmitglieder nach Hause zu holen. Denn eines sei wichtig zu wissen, so Förtsch: Die Behinderten wurden damals aus den Heimen heraus zur Ermordung gebracht, nie aus den Familien. „Das hätte zu viel Unruhe gemacht.“ Doch zur Euthanasie-Aktionen gehört auch dies: Breuning informierte mindestens 77 Angehörige von der drohenden Gefahr, so Förtsch: „40 Briefe wurden beantwortet. Sieben Pflegeheim-Insassen wurden nach Hause geholt.“

Das Ergebnis ist niederschmetternd: „Wir kennen mindestens 181 Männer und Frauen aus dem Diak, die getötet, die vergast worden sind. Aus dem Altkreis Crailsheim können wir bislang 75 namentlich nachweisen.“ Zum Beispiel Karl R. aus Wiesenbach, gestorben 1940 in Grafeneck. Oder Babette M. aus Jagstheim, gestorben 1940 in Grafeneck. Und immer wieder: „1940 gestorben in Grafeneck“.